Forderungskatalog Flüchtlingshilfe
in der Stadt Marburg und im Landkreis Marburg-Biedenkopf
erarbeitet vom Netzwerk Ehrenamt, Flucht und Integration (EFI)
Wir sind ehrenamtliche Flüchtlingshelferinnen und -helfer, die sich in Organisationen, Vereinen oder Initiativen engagieren. In der Universitätsstadt Marburg und in den Gemeinden des Landkreises Marburg-Biedenkopf unterstützen wir seit Jahrzehnten. Migrantinnen und Migranten aus allen Herkunftsländern. Der Zuzug von Flüchtlingen im Jahr 2015 führte zu einer engen Vernetzung über Gemeindegrenzen hinaus. Unser Netzwerk heißt EFI (Ehrenamt, Flucht und Integration). Wir werden von einem Koordinierungsteam unterstützt. Dessen hauptamtliche Organisatorin ist bei der INTEGRAL gGmbH angesiedelt. Den Behörden des Landkreises Marburg-Biedenkopf und der Universitätsstadt Marburg treten wir unabhängig und lösungsorientiert gegenüber. Im Lauf der Jahre hat sich ein kritisch-konstruktives Verhältnis entwickelt. Es ist vom gemeinsamen Bemühen um das Zusammenleben neu Zugezogener und Alteingesessener in Frieden und sozialer Sicherheit geprägt. Uns sind aber auch Defizite aufgefallen, die politisches Handeln erfordern und die wir heute vortragen möchten.
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Öffentlichkeitsarbeit pro Migration
Regionale Politikerinnen und Politiker äußern sich immer wieder positiv zu Willkommenskultur, Miteinanderkultur und Ablehnung jeglichen Rassismus. Andererseits ist nicht zu übersehen, dass große Teile der Bevölkerung weitere Migration nach Deutschland strikt ablehnen. Im Vorlauf der Bundestagswahl 2021 wurden Fragen der Migration in der öffentlichen Diskussion weitgehend ausgeklammert. Man wollte keine eigenen Wählerinnen und Wähler verlieren. Den Grundwerten unserer Verfassung und internationalen Verpflichtungen entspricht dieses Verhalten nicht. Es muss einem nüchternen Blick auf die tatsächlichen gesellschaftlichen Notwendigkeiten weichen. Insbesondere die Behebung des Fachkräftemangels und die Sicherung der Sozialsysteme sind ohne Einwanderung nicht möglich. Migrantinnen und Migranten muss daher die Möglichkeit eröffnet werden, Abschlüsse im hiesigen Bildungs- und Ausbildungssystem zu erwerben und diese beruflich zu nutzen. Dies bedarf deutlich mehr Investitionen als bisher in Bildung und Ausbildung.
Zusätzlich wird eine aktive Öffentlichkeitsarbeit von Politikern und Behörden notwendig sein, um Akzeptanz und Unterstützung für Migration zu erlangen. Hierzu sollte eine Kommunikationsstrategie entwickelt werden, die zwischen der Stadt Marburg, den Kommunen und dem Landkreis abgestimmt ist. Unsere ehrenamtliche Expertise wollen wir gern dazu beisteuern.
Bildung und Ausbildung
Selbstverständlich kann von Flüchtlingen die verbindliche Teilnahme an staatlichen und kommunalen Bildungsprogrammen gefordert werden. Auch gegen eine wirksame Kontrolle der Teilnahme ist nichts einzuwenden. Aber vor allem muss es diese Angebote erst einmal geben. Zeitnah müssen folgende Forderungen umgesetzt werden:
- Verpflichtender zweijähriger Deutschunterricht, der auch tatsächlich stattfindet
- Individuelles Mentoring während der Ausbildung an Schulen, in Betrieben und während des Studiums
- Mehr Stunden und mehr Lehrerinnen und Lehrer für den Deutschunterricht in Intensivklassen und im gesamten Bildungssystem
- Hausaufgabenbetreuung in der Schule
- Aufsuchende Elternarbeit auch in den Herkunftssprachen durch qualifiziertes Personal. Dabei sollten örtliche Flüchtlingsinitiativen einbezogen werden.
Frauen und Mütter
Viele geflüchtete Frauen und Mütter mit Kleinkindern haben vor und während der Flucht nie Gleichberechtigung erlebt. Ihre Integration gelingt nur, wenn Bildungsangebote mit weiteren Maßnahmen flankiert werden. Gelingt dies nicht, werden sie lebenslang in die Rolle der abhängigen Mutter und Hausfrau gedrängt. Zu den notwendigen Maßnahmen zählen:
- Die Schaffung eines vertraulichen Umfeldes, damit Brüder, Partner oder Ehemänner die Bildungsangebote tolerieren. Der Information der Männer ist besondere Bedeutung beizumessen.
- Frauen müssen sich jederzeit in Sicherheit wissen.
- Bildungsangebote müssen einen kostenlosen, gesicherten Transport zum Bildungsort und zurück anbieten.
- Die Betreuung der Kleinkinder muss sichergestellt sein.
Integration
Oft wird Integration als Anstrengung betrachtet, die allein vom einzelnen Flüchtling erbracht werden muss. Sie gilt als erreicht, wenn Betroffene die Sprache erlernt haben und nach einer Ausbildung in einem Arbeitsverhältnis stehen. Der Begriff ist jedoch weiter zu fassen. Es geht auch um Integration in das gesamte gesellschaftliche und politische Leben. Das ist eine Aufgabe aller Menschen, die in Deutschland leben.
Sportvereine haben sich als Orte gelungener Integration bewährt. Aber auch Feuerwehren, Schützenvereine, Kleingärtnervereine, Imkervereinigungen, Chöre, Bands und viele andere sind gefragt. Umgekehrt sollten gebürtige Deutsche Zugang zu Vereinigungen und Veranstaltungen bekommen, die von Migrantinnen und Migranten organisiert werden. Diese umfassende Vorstellung von Integration ist kaum im öffentlichen Bewusstsein verankert. Politikerinnen und Politiker pflegen intensiven Kontakt zu örtlichen Vereinen. Sie sollten ihre öffentlichen Auftritte nutzen, um immer wieder darauf hinzuweisen.
Integrierte Geflüchtete sind Teil unserer Gesellschaft. Sie dürfen nicht bei Nacht und Nebel durch Abschiebung aus unserer Mitte gerissen werden. Das geschieht aber viel zu oft, auch bei Menschen, die Deutsch erlernt, eine Ausbildung abgeschlossen und eine sozialversicherungspflichtige Arbeit aufgenommen haben.
Zugang zum Arbeitsmarkt
Geflüchteten geht es wie allen Menschen. Sie wollen ihren Lebensunterhalt durch eigene Arbeit selbst bestreiten und nicht von staatlichen Almosen abhängig sein. Außerdem mussten sie sich häufig durch die Flucht hoch verschulden und wollen die Familien in den Herkunftsländern finanziell unterstützen. Daher ist für sie schneller und unkomplizierter Zugang zum offiziellen Arbeitsmarkt lebenswichtig. Ansonsten sind prekäre, dramatisch unterbezahlte illegale Arbeit und in ausweglosen Situationen sogar Kleinkriminalität vorgezeichnet.
Geflüchtete Menschen bringen vielfältige fachliche Kompetenzen mit. Diese entsprechen aber oft nicht deutschen Berufsabschlüssen. Deshalb sind Verfahren zur Kompetenzermittlung notwendig, die auf das tatsächliche Können der Menschen und nicht auf formale Abschlüsse ausgerichtet sind. Wer den Zugang zum Arbeitsmarkt geschafft hat, sollte auch in Deutschland bleiben können. Und selbst wer keine Bleibeperspektive hat, sollte arbeiten dürfen. Auf diesem Weg kann sich ein Flüchtling eine Qualifikation erwerben, die er in seinem Heimatland einsetzen kann. So wird Entwicklungspolitik unterstützt.
Die Erteilung einer Arbeitserlaubnis ist zentralisiert und immer weiter bürokratisiert worden. Die Entscheidungen haben oft nichts mehr mit örtlichen Notwendigkeiten zu tun.
Politikerinnen und Politiker aus der Region sollten sich in übergeordneten Gremien für Regelungen stark machen, die Menschen und Betrieben vor Ort wirklich helfen.
Wohnen und Mobilität
Migrantinnen und Migranten werden in Stadt und Landkreis nach Möglichkeit dezentral in ganz normalen Nachbarschaften untergebracht. Das ist richtig so und fördert die Integration. Allerdings hat diese Konzeption Folgen für die Infrastruktur. Bildungsangebote, Arbeitsplätze, Behörden und Einrichtungen der medizinischen Versorgung müssen regelmäßig und zu bezahlbaren Preisen erreichbar sein. In dieser Hinsicht unterscheiden sich Flüchtlinge nicht von der übrigen Wohnbevölkerung. Ausbau des ÖPNV und die Einführung eines Landkreis-Tickets in Anlehnung an das Modell der Universitätsstadt Marburg gehören ganz oben auf die Agenda von Kreistag und Kreisausschuss.
Segregation von Geflüchteten und anderen Menschen unterhalb der Armutsgrenze in bestimmten abgelegenen Dörfern und Wohnquartieren macht Integration unmöglich und fördert vorherrschende Ressentiments und Vorurteile. Ihre Bedürfnisse müssen bei der Stadt- und Regionalplanung berücksichtigt werden. Dabei geht es u. a. um günstige Wohnungen in zentralen Lagen, Möglichkeiten zur Mitgestaltung des Viertels und Möglichkeiten der Partizipation.
Medizinische Versorgung
Bestimmte Gruppen von Geflüchteten erhalten nur eingeschränkten Zugang zu medizinischen Leistungen über Behandlungsscheine. Sozialämter müssen entscheiden, was medizinisch notwendig ist. Durch diese Praxis werden nicht nur die Betroffenen gefährdet und diskriminiert. Auch für die übrige Wohnbevölkerung steigen Infektionsgefahr und andere gesundheitliche Risiken. Alle Menschen in Deutschland müssen unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus in Krankenkassen aufgenommen werden.
Eine erhebliche Zahl von Flüchtlingen ist vor und während der Flucht traumatisiert worden. Traumatherapien müssen in den Sprachen der Flüchtlinge erfolgen. Dafür fehlen sprachlich und fachlich qualifizierte Fachkräfte. In Kooperation mit Hochschulen und anderen Bildungseinrichtungen der Region sollte diesem Mangel abgeholfen werden.
Vor geplanten Abschiebungen überprüft die Zentrale Ausländerbehörde nur, ob die Betroffenen im medizinischen Sinn transportfähig sind. Oft ist jedoch eine medizinische Versorgung lebensnotwendig, die im Herkunftsland nicht angeboten, bereitgestellt oder finanziert werden kann. In solchen Fällen ist eine Abschiebung auszusetzen und eine Duldung mindestens bis zur Genesung auszusprechen.
Wichtige gesundheitsrelevante Informationen, zum Beispiel Impfaufklärung über die Corona-Erkrankung, dürfen nicht an Sprachbarrieren, fehlendem medizinischen Wissen und kulturellen Missverständnissen scheitern. Mehrsprachigkeit, einfache Sprache und persönliche Vermittlung durch Muttersprachlerinnen und Muttersprachler müssen konsequent umgesetzt werden.
Zusammenarbeit mit Verwaltung und Behörden
Die Zusammenarbeit mit der Verwaltung und den Behörden des Kreises und der Stadt hat einen guten Stand erreicht. Behörden, die jeden Tag mit Migrantinnen und Migranten zu tun haben, optimieren Mehrsprachigkeit und einfache Sprache. Andere Behörden sowie Krankenkassen, Agentur für Arbeit, Dienststellen der Polizei und der Justiz sollten sich diesen Beispielen anschließen. Sie vermeiden dadurch Missverständnisse, unnötigen Arbeitsaufwand und überflüssigen Ärger. Sozialarbeiter fangen solche Missstände häufig auf, aber von ihnen gibt es in der öffentlichen Verwaltung nicht genug.
Bei manchen Behörden lässt die Transparenz zu wünschen übrig. Telefonische Hotlines führen ins Leere. Persönlich ansprechbare Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind nicht erkennbar. Wichtige Formulare sind nicht mehrsprachig verfügbar oder können nicht von allen Endgeräten aus mobil bearbeitet werden.
Durch die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund wird in Behörden und Verwaltungen die interkulturelle Kompetenz gestärkt. Zudem wird die Kommunikation mit Flüchtlingen im Einzelfall erleichtert, weil Sprachbarrieren abgebaut werden. Junge Menschen mit Migrationshintergrund sollten deswegen vermehrt eingestellt und ausgebildet werden.
Insbesondere die Zentrale Ausländerbehörde wirft Flüchtlingen häufig vor, sie würden ihre Identität verschleiern und notwendige Dokumente nicht beschaffen. Das ist aber in einigen Ländern nicht möglich oder nur durch Zahlung von Bestechungsgeldern zu erreichen.
Trotz des nachweislich belegten Bemühens um die Identitätsnachweise werden Abschiebungen und Leistungskürzungen verhängt. Dieser Zustand muss auf politischer Ebene dringend geändert werden. Korrupte und unfähige Behörden in den Heimatländern dürfen die Entscheidungen deutscher Behörden nicht länger beeinflussen.
Wir Flüchtlingsinitiativen in der Stadt Marburg und im Landkreis hoffen, dass unsere Forderungen in der regionalen Politik Gehör finden. Gern sind wir zur Kooperation bereit.